Weil es Zeit war, zu gehen
Heuer war der Umstieg vom Sommer zum Herbst für mich eine echte Herausforderung, denn unser Familienurlaub in Amerika war so eine besondere Zeit, dass es nicht leicht ist, wieder zu Hause anzukommen.
Niemals zuvor waren wir Vier so lange ohne Unterbrechung zusammen: Wir haben im selben Zimmer geschlafen, sind tausende Schritte nebeneinander durch Städte und Nationalparks gewandert, haben 5.200 km im Auto zurückgelegt und dabei einzigartige Erinnerungen und haufenweise Fotos gesammelt. Die glückliche Grundstimmung der Reise ist nun Teil unserer Familiengeschichte und wird stets eine Kraftquelle für uns bleiben. Dass wir nun alle wieder unseren eigenen Tätigkeiten nachgehen und wir uns oft erst zum Abendessen wiedersehen, ist der bekannte Alltag, aber noch sehr ungewohnt.
Von all den Orten, die wir besucht haben, hat mich Mesa Verde in Colorado am meisten berührt. Um 550 n.Chr. ließen sich dort Indianer, heute Ancestral Pueblo People genannt, nieder. Sie wohnten zunächst in sogenannten Pit Houses, im Boden eingelassenen Lehmhütten, bauten Kürbisse, Mais und Bohnen an, sammelten Früchte und jagten Wildtiere. So konnten sie trotz der kalten Winter und der wiederkehrenden Dürren überleben. Ihre Kultur und ihre Fertigkeiten entwickelten sich weiter, die Sippen wuchsen und sie bauten Steinhäuser und Dörfer.
Um 1200 übersiedelten die Indianer in Felsenbehausungen, sogenannte Cliff Dwellings. Um 1300 verließen sie Mesa Verde innerhalb einer Generation und zogen weiter nach Arizona und New Mexiko. Ihre direkten Nachfahren leben dort noch heute und wenn man sie fragt, warum ihre Ahnen Mesa Verde verlassen haben, antworten sie: Weil es Zeit war, zu gehen…
Die Überreste dieser hochentwickelten Kultur kann man heute im Mesa Verde National Park besichtigen. Als ich aus der Entfernung auf Cliff Palace geschaut habe, konnte ich den Geist dieser Menschen, die hier gelebt haben, so intensiv spüren, dass mir die Tränen über die Wangen gelaufen sind.
Weil es Zeit war, zu gehen. Diese Worte sind endgültig, ohne Emotion, logisch. Es ist an der Zeit, es gibt keine Alternativen, Weggehen ist die beste Möglichkeit. So viele Menschen haben dieses Schicksal schon geteilt, haben ihre Heimat verlassen, haben sich auf den Weg gemacht, weil sich die Lebensumstände geändert haben. Die Gründe sind vielfältig, die Konsequenzen immer die gleichen. Die Menschen verlassen ihre Wurzeln, ziehen weiter und hoffen, woanders ein besseres Umfeld zum Überleben zu finden. Auch meine Vorfahren mussten im Krieg fliehen und diese Erfahrung ist noch in meinen Zellen gespeichert.
Oft bleibt in der alten Heimat kaum etwas übrig, das an die alten Bewohner erinnert. Das ist schade, denn es ist wichtig, einen Ort zu haben, an dem man den Geist seiner Ahnen spüren und besuchen kann.
Mesa Verde ist so ein Ort. Die Modern Pueblo People kehren regelmäßig nach Mesa Verde zurück, um die Kraft ihrer Vorfahren zu fühlen. Auch die Ancestral Pueblo People gaben ihren Altvorderen einen wichtigen Platz in ihrem Leben. Sie hatten in ihren Häusern ein Loch im Boden, das sogenannte Sipapu, durch das die Ahnen jederzeit erscheinen konnten, wenn ihre Unterstützung gebraucht wurde. Ich glaube, wir alle könnten so ein „Ahnenloch“ in unseren Wohnzimmern gut gebrauchen...
Für die Ancestral Pueblo People kam 1300 die Zeit, zu gehen. Aber warum? Die Wissenschaftler glauben, dass mehrere Gründe dafür verantwortlich waren. Nach Jahrhunderten der intensiven Nutzung waren die natürlichen Ressourcen der Umgebung erschöpft. Die Wacholder- und Pinienwälder waren gerodet, es fehlte an Feuerholz und Baumaterial und der Bestand an Wildtieren ging durch die jahrzehntelange Jagd zurück und die Menschen mussten sich von Hasen und Eichhörnchen ernähren. Gleichzeitig wurden die Sippen und damit der Raumbedarf in den Cliff Dwellings immer größer und die Übervölkerung und der Mangel führten zu sozialen Konflikten. Weitere Dürreperioden und der damit verbundene Ernteausfall könnten dann Auslöser für die Abwanderung gewesen sein. Wie die Geschichte zeigt, hatten die Menschen Glück, denn sie fanden in Arizona und New Mexiko Umstände vor, die ihr weiteres Überleben gesichert haben.
Wiederholt sich das, was vor 700 Jahren in Mesa Verde passiert ist, gerade im Großen? Wie lange finden wir Menschen noch neue Orte, wo wir weiterleben können, wenn wir die natürlichen Rohstoffe unserer Umgebung aufgebraucht haben? Beuten wir die Ressourcen der Welt so aus, dass für unsere Nachfahren bald die Zeit kommen wird, um zu gehen? Mit dem Unterschied, dass es dann auf Erden keinen Ort mehr geben wird, zu dem sie weiterziehen können....
In Mesa Verde habe ich den Entschluss gefasst, mein Bestes zu tun, um das zu verhindern, denn jeder Schritt, der dazu führt, dass die wertvollen Ressourcen der Erde achtsam und nachhaltig genutzt werden, ist wichtig!
Ich wünsche Euch von Herzen einen stärkenden Herbst, in dem Ihr Euch an Eure Wurzeln und Kraftquellen anbinden könnt und die Geschenke der Erde dankbar und bewusst nutzt!




